Der Aufbau einer Fläche anhand besonderer Punkte

Die Vorgeschichte der Morseschen Formeln

Die Berührungspunkte von Möbius in einem allgemeineren Rahmen zu sehen, versuchte zuerst Walther Dyck im Jahre 1885 und gab zugleich [314 sq.] einen Überblick über die Frühgeschichte der besonderen Punkte.

Die folgenden Untersuchungen handeln von der Bestimmung der Grundzahl einer Fläche, welche aus beliebig vielen - berandeten oder geschlossenen - Theilen besteht, und bezwecken insbesondere, diese Bestimmung zu charakterisiren, falls jene Fläche durch analytische Daten gegeben vorliegt.

Die Bestimmung gründet sich auf ein, auf der Fläche gezeichnetes Curvensystem, von der Art, dass durch jeden Punkt eine und nur eine Curve des Systems hindurchgeht und nur in einer endlichen Zahl von Punkten mehrere - auch unendlich viele - Curvenzweige einmünden.

Der Gedanke, die Beziehungen der besonderen Punkte derartiger Curvensysteme zu der Grundzahl einer geschlossenen Fläche aufzusuchen, ist zuerst von Möbius in seiner »Theorie der elementaren Verwandtschaft« in diesen Berichten Bd.15, (1863) ausgeführt und es waren gerade dessen anschauliche und dem Wesen der Fragestellung angepasste Methoden, welche mich zu den vorliegenden Untersuchungen geführt haben. Und in der That trifft gerade diese Herleitung der Grundzahl das Wesen der Aufgabe, insofern durch ein solches Curvensystem gewissermassen der Werdeprocess der Fläche geschildert wird, ihr Wachsthum in schmalen Streifen, welche zwischen je zwei benachbarten Curven enthalten sind, wobei dann die Verwachsungen, von denen ja die Grundzahl abhängt, jedesmal in den singulären Stellen des Curvensystems ihren Ausdruck findet.

Andeutungen über die gegenseitige Beziehung der besonderen Punkte eines derartigen Curvensystems finden sich wohl zuerst bei Gauss [1839, Nachdruck 1877, 134-137], ferner hat Reech diese Beziehungen für die auf einer Kugel gezeichneten Curvensysteme aufgestellt. In neuester Zeit ist von Klein [1882, 39] auf die Möglichkeit ihrer allgemeineren Formulierung hingewiesen worden und insbesondere kommt Poincaré [1881-1882] in seinen Untersuchungen »Sur les courbes définies par une équation différentielle« auf die Frage für Kugel und Kugelcalotte ganz in dem hier im ersten Abschnitte gegebenen Sinne.

Poincaré und Dyck charakterisieren in fast gleichzeitig erscheinenden Teilen ihrer Arbeiten die kritischen Punkte, bei Dyck Kreuzungspunkte eines Curvensystems, bei Poincaré points singuliers genannt, in folgender übereinstimmenden Weise. Ich zitiere hier die etwas früher erschienene Formulierung von Poincaré [1885, Nachdruck 1928, 123 sq. mit fig. 31 sq.]. Zunächst wird definiert:

Traçons sur la surface S1 un cycle quelconque. Ce cycle sera touché en certains de ses points par diverses trajectoires, mais les unes le toucheront extérieurement, les autres intérieurement. Soient E le nombre des contacts extérieurs, I celui des contacts intérieurs; le nombre

J=½(E- I- 2)

s'appelera l'indice du cycle.

Weiter unten heißt es dann:

Cherchons maintenant à déterminer l'indice d'un cycle infiniment petit.

Si le cycle infiniment petit n'enveloppe aucun point singulier, nous pourrons toujours supposer qu'il est convexe, car, s'il ne l'était pas, on pourrait le décomposer en plusieurs cycles plus petits encore et convexe. Alors la figure 31 indique que le cycle a seulement deux contacts extérieures avec les trajectoires MP et M"P".

L'indice est donc égal à 0.

Si le cycle enveloppe un col, nous le supposerons encore convexe, et la figure 32 montrera qu'il a quatre contactes extérieures, et que son indice est égal à 1.

Si le cycle enveloppe un noeud ou un foyer, je dis que son indice est - 1.

Dieselbe Auffassung geben die ersten vier Figuren von Dyck [1885, tab.] wieder.

In der Tat hat Gauß schon detaillierte und allgemeine Aussagen über besondere Punkte dieser Art gemacht. Sie tauchen an einer Stelle in der Allgemeinen Theorie des Erdmagnetismus auf, wo der Begriff des magnetischen Pols endgültig geklärt wird. Gauß stellt folgende Überlegung an, bei der er mit den unumgänglichen topologischen Aussagen sehr vorsichtig ist.

Sei V eine stetig differenzierbare (reelle) Funktion oder speziell das magnetische Potential auf der Erdoberfläche. Ein kritischer Punkt von V heißt dann Pol, ein Maximum Nordpol, ein Minimum Südpol. Sei S für ein festes W das Gebiet, auf dem V>W ist. Für zwei Maxima P* und P** von V stehen o.B.d.A. die dortigen Funktionswerte in der Beziehung V**³V*. Zu jedem Punkt, insbesondere zu P**, gibt es ein W<V*, so daß P* und P** in verschiedenen Zusammenhangskomponenten von S liegen. Da V beschränkt ist und die Erdoberfläche zusammenhängend, gibt es ein anderes W, so daß P* und P** zur gleichen Zusammenhangskomponente von S gehören. Unter der Annahme, daß kein weiteres Maximum auftritt, gibt es dann einen kleinsten Wert W=V***, so daß P* und P** noch in verschiedenen Zusammenhangskomponenten liegen.

Behauptung: Haben die Abschlüsse der beiden Zusammenhangskomponenten nur einen Punkt P*** gemeinsam, so hat das Niveau V=V*** die Gestalt einer Acht und in ihrem Schnittpunkt P*** gilt grad(V)=0.

Beweis: Weil grad(V) zu jeder Niveaulinie senkrecht steht, ist entweder grad(V)=0 oder die beiden Tangenten in P*** fallen zusammen. Im zweiten Fall muß, da die beiden Maxima in je einer Öffnung der Acht liegen, grad(V) ins Innere beider Öffnungen der Acht zeigen, was unmöglich ist. Also ist grad(V)=0 und damit P*** ein Pol, aber ein Pol, welcher in Beziehung auf die zunächstliegenden Punkte innerhalb der beiden Öffnungen der Acht wie ein Südpol, in Beziehung auf die ausserhalb liegenden hingegen wie ein Nordpol betrachtet werden muss [Gauß 1839, Nachdruck 1877, 136 und fig. 1; die von mir verwendeten Bezeichnungen sind im wesentlichen von Gauß übernommen].

Die Notwendigkeit dieses Sattelpunktes unter den Voraussetzungen, daß die Erdoberfläche zusammenhängend ist und zwei Nordpole hat, findet eine Verallgemeinerung in den Morseschen Ungleichungen.

Das System der Morseschen Ungleichungen, insbesondere die Identität zwischen den Wechselsummen der Anzahlen kritischer Punkte und der Zusammenhangszahlen, stellt eine zentrale Aussage der Theorie von Marston Morse [1925; 1934, 143] dar:

C0³B0

-C0+C1³-B0+B1

:

:

C0-C1+C2...+( -1)nCn=B0-B1+B2...+( -1)nBn

Dabei sei Ci die Anzahl der kritischen Punkte vom Index i einer Morsefunktion auf einer Riemannschen Mannigfaltigkeit der Dimension n und Bi die i-te Zusammenhangszahl dieser Mannigfaltigkeit. Spätestens durch die Darstellungen der Materie durch Seifert und Threlfall [1938, 7 und 85; 1939; 1941, 23] hat sich für diese Beziehungen die Bezeichnung Morsesche Ungleichungen oder Morsesche Formeln eingebürgert.

Für Morse und seine Zeitgenossen besteht kein Unterschied mehr zwischen der Wechselsumme der Zusammenhangszahlen und der Euler-Charakteristik einer Mannigfaltigkeit, denn Poincaré hat schon 1895 für polyedrisch zerlegte geschlossene Mannigfaltigkeiten beliebiger Dimension gezeigt, daß die Euler-Charakteristik N gleich der rechten Seite der obigen Gleichung ist. Bei einem polyedrischen Aufbau einer geschlossenen Mannigfaltigkeit der Dimension n aus ai Konstituenten der Dimension i (0£ i£ n) ergibt sich die Euler-Charakteristik als Wechselsumme der Anzahlen dieser Konstituenten:

N=-a0+a1-a2...+( -1)n+1an

Diese drei topologisch invarianten Wechselsummen und ihre Identität kann man so in ein und demselben Zusammenhang sehen.

In der Arbeit von Klein, auf die Dyck hingewiesen hat, kommen nur komplex-analytische Funktionen auf Flächen vor. Nach Herausnahme der singulären Punkte kann ihr Realteil als Morsefunktion angesehen werden. Der Imaginärteil repräsentiert dann den zugehörigen Fluß, Strömung genannt. Die Unendlichkeitspunkte treten an die Stelle von Maxima und Minima, die grundsätzlich nicht auftreten können. Die Sattelpunkte heißen bei Klein Kreuzungspunkte einer Strömung und er schreibt an der von Dyck angemerkten Stelle [1882, 39]:

Die Zahl der Kreuzungspunkte einer Strömung wächst offenbar mit dem p der Fläche und mit der Zahl der Unendlichkeitspunkte. Algebraische Unendlichkeitspuncte von der Multiplicität r mögen als (r+1) logarithmische Unendlichkeitspuncte gezählt werden. Dann ist auf der Kugel bei µ logarithmischen Unendlichkeitspunkten die Zahl der eigentlichen Kreuzungspunkte allgemein µ-2. Andererseits ist mit der Zunahme von p um eine Einheit nach unseren Beispielen eine Zunahme der Zahl der Kreuzungspunkte um zwei Einheiten verbunden. Hiernach wird man vermuthen, dass die Zahl der Kreuzungspuncte überhaupt µ+2p-2 sein wird. Ein strenger Beweis dieses Satzes auf Grund der bisher entwickelten Anschauungen hat jedenfalls keine besondere Schwierigkeit; er würde hier aber zu weit führen.

Mit der Zahl der Kreuzungspunkte als Anzahl der kritischen Punkte von ungeradem Index C1, µ als Anzahl der kritischen Punkte von geradem Index C0+C2 und der Riemannschen Zusammenhangszahl p=½B1 ist das genau die Morsesche Identität für n=2 und B0=B2=1. Die Überlegung von Möbius ist im übrigen ausreichend, um die Behauptung von Klein zu beweisen.

Poincaré hat für eben diesen Fall n=2 und B2=1 die Identität zwischen den genannten Wechselsummen bewiesen und behauptet zunächst [Nachdruck 1928, 121]:

Reprenons la nappe S1 de genre p, et supposons que cette nappe ne présente ni point conique, ni courbe multiple.

Soient C le nombre des cols situés sur cette nappe, N le nombre des noeuds, F celui des foyers; je dis qu'on aura la relation

N + F - C = 2 - 2p.

Und weiter unten schreibt Poincaré [Nachdruck 1928, 124]:

Tout le monde connaît le théorème d'Euler, d'après lequel, si a, ß, g sont le nombre des faces, des arêtes et des sommets d'un polyèdre convexe, on doit avoir

a - ß + g = 2

Ce théorème s'étand aisément au cas où le polyèdre, au lieu d'être convexe, forme une surface de genre p; on trouve alors

a - ß + g = 2 - 2p.

Allgemeiner gilt diese Formel, wie Poincaré im Anschluß daran schreibt, für polyedrisch zerlegte Flächen, wie er sie in seinem Beweis benutzt. Diese Beziehung setzt Poincaré ohne Hinweis auf eine Quelle voraus und zeigt im Kern die Identität

C - F - N = ß - a - g .

Morse weist an entsprechenden Stellen [1925, 347; 1934, 143] darauf hin. Im Fall geschlossener orientierbarer Flächen kann man kaum von einer Wechselsumme der Zusammenhangszahlen sprechen, weil stets B0=B2=1 gilt und somit -B0+B1-B2 nur von B1 abhängt, was Poincaré durch das Geschlecht p der Fläche ausdrückt. Dyck faßt seine besonderen Punkte weiter und erhält kompliziertere Beziehungen.

Seifert und Threlfall [1938, 6; 1941, 20] nennen die beiden Identitäten, die die kritischen Punkte einbeziehen, im Fall n=2 Kroneckersche Formel. Die Rolle von Kronecker in diesem Zusammenhang rechtfertigt m.E. aber nicht diese Bezeichnungsweise. Sie wurde vermutlich durch eine Note von Morse [1925, 347] angeregt, die in dem Aufsatz steht, in dem die "Morseschen Formeln" vorgestellt und bewiesen werden:

For the case n=2 the author has been able to outline an alternative proof of one of the relations between the critical points by making use of the Kronecker characteristic of a given function and its partial derivatives. That the Kronecker theory as developed by Kronecker will not suffice in general to obtain the results of this paper is evident from the fact that Kronecker distinguishes between the critical points according to the sign of the hessian of the function, while in this paper both in the proofs and in the results there is an essential distinction between the n+1 types of critical points. Further, in Kronecker no reference is made to anything like the connectivity numbers of the regions in which the critical points are being studied.

Morse verfolgt weiterhin die Tragfähigkeit der Charakteristik von Kronecker, wie eine Note in seinem Hauptwerk [1934, 145] zeigt:

The equality in the relations (1.1) in the case of a simply connected region in n-space can be derived with the aid of the theory of the Kronecker characteristics, although Kronecker made no such explicit derivation.

Kronecker ist in seinen Arbeiten über Funktionensysteme, auf die sich Morse in beiden Fällen bezieht, durchaus bestrebt, geometrische Anwendungen seiner Theorie anzuregen [1878, 146]. Und als Beispiel zeigt er den Zusammenhang der Charakteristik eines Funktionensystems mit der curvatura integra einer Fläche [1869, 689]. Poincaré [Nachdruck 1928, 189] stützt seine Definition des Index einer Fläche, die als Nullstellengebilde einer Funktion F(x,y,z) des R3 gegeben ist und als geschlossen angenommen wird, in der Tat auf die von Kronecker eingeführte Charakteristik eines Funktionensystems.

D'après le théorème de M.Kronecker, l'indice d'une surface fermée quelconque est égal au nombre des points singuliers positifs situés à l'intérieure de cette surface, diminué du nombre des points singuliers négatifs.

Poincaré beweist auch bis auf das Vorzeichen die Abhängigkeit dieses Index vom Geschlecht der Fläche und damit von der Euler-Charakteristik:

Cela posé, je vais montrer que l'indice d'une surface sans contact ne dépend que de son espèce et de son genre. [cf. Poincaré 1881-1886, Nachdruck 1928, 191]

Nimmt man das Gebiet F-1(- ¥,0) als beschränkt an, so ist F eine Morsefunktion auf diesem Gebiet und es handelt sich oben um eine morsetheoretische Überlegung an einer vorgegebenen Funktion. Die obigen Überlegungen von Poincaré zu den kritischen Punkten und der Euler-Charakteristik einer Fläche sind aber unabhängig davon und unabhängig von der Kroneckerschen Theorie dargestellt.

Ein zweiter Anwender der Theorie von Kronecker ist Dyck, der mit ihrer Hilfe eine Verbindung zwischen jenen beiden Gesichtspunkten herstellt. Er möchte ebenfalls die Charakteristik von Kronecker zur analytischen Formulierung der geometrischen Charakteristik einer Mannigfaltigkeit benutzen [1885, 315] und nennt diese dann auch Kroneckersche Charakteristik. Das zugrunde gelegte Funktionensystem besteht bei Dyck aus der Funktion F0(x,y,z), als deren Nullstellengebilde eine Fläche gegeben ist, und ihren drei partiellen Ableitungen F1=dF0/dx, F2=dF0/dy und F3=dF0/dz. Die Charakteristik K dieses Funktionensystems ergibt sich nun nach Kronecker aus zwei Arten der Abzählung, nämlich als K=-½S s(x,y,z) über alle Punkte für die Fi=Fj=Fk=0 oder K=S t(x,y,z) über alle Punkte für die Fi<0 und Fj=Fk=Fl=0. Dabei ist s das Vorzeichen der Determinante von (Fmn) mit m,n=0,1,2,3 und t das Vorzeichen der Determinante von (Fpq) mit p,q=1,2,3. Für i=0 entspricht die erste Summation gerade der soeben angeführten Überlegung von Poincaré und der von diesem definierte Index der Fläche F(x,y,z)=0 ist - 2K. Damit können nur Flächen erfaßt werden, die Rand eines Raumgebiets sind. Die zweite Summation liefert genau die Wechselsumme über die kritischen Punkte auf der Fläche F(x,y,z)=0 bezüglich der Koordinatenfunktion f(x,y,z)=z und wird von Dyck [1886, 63, und 1885, 324] so beschrieben, daß man das Vorgehen von Möbius wiedererkennt, in dem er den Ursprung seiner Untersuchung sieht. Auch die erste Abzählung hat eine geometrische Interpretation, der Dyck [1885, 325] eine ganz ähnliche Erscheinung gibt.

Im Innern von f=0 ist ein »Flächensystem S« von Flächen f=const. gezeichnet, so dass durch jeden Punkt nur eine Fläche des Systems hindurchgeht. Die Knotenpunkte (f1=0, f2=0, f3=0) von Flächen des Systems trennen sich wenn wir das System in bestimmter Richtung (mit wachsender Constanten) durchlaufen, in 4 Kategorien:

1) Punkte, in welchen ein elliptisch gekrümmter Flächentheil aus einem isolirten Punkte entsteht; umgekehrt

2) Punkte, in denen sich ein elliptisch gekrümmter Flächentheil zusammenzieht,

3) Punkte, bei denen ein hyperbolisch gekrümmter Flächentheil in zwei elliptisch gekrümmte sich spaltet, und umgekehrt,

4) Punkte, wo zwei elliptisch gekrümmte Flächentheile sich zu einem hyperbolischen vereinigen.

Es lag in der Absicht von Dyck, die Methode von Möbius weiterzuentwickeln. Schließlich waren es aber die einfacheren Beziehungen von Möbius, die sich in der Morse-Theorie endgültig gefestigt und als verallgemeinerungsfähig herausgestellt haben. Möbius hat die Beziehung zwischen den Anzahlen der elliptischen und hyperbolischen Berührpunkte, die in der oben beschriebenen Weise als kritische Punkte einer Morsefunktion gedeutet werden können, und der Klassenzahl einer Fläche angegeben. Sein Beweis ergibt sich aus Überlegungen zur Klassifikation der Flächen und erscheint deshalb im Stil eines Korollars im Anschluß daran. Allein die Wohldefiniertheit der Klassenzahl einer geschlossenen Fläche übergeht Möbius, die ihm auch für die topologische Klassifikation der Flächen fehlt. Da die Klassenzahl bei Möbius durch Zusammenhangseigenschaften im Riemannschen Sinne charakterisiert ist, hätte er dieses Ergebnis von Riemann übernehmen können. Auf diesen Zusammenhang muß hingewiesen werden, zumal da die Überlegung von Möbius als Existenzbeweis für die von Riemann vorausgesetzte Zerschneidung einer Fläche dienen kann.

Die Eulersche Polyederformel, für Möbius die Beziehung zwischen der Klassenzahl und der Euler-Charakteristik, erfährt bei Möbius [§.22] eine außergewöhnliche Behandlung.

Ich kann hierbei nicht umhin, auf den Zusammenhang noch aufmerksam zu machen, der zwischen der Formel (A) in § 18. und derjenigen statt findet, welche zwischen den Ecken-, Flächen- und Kantenzahlen eines Polyeders und der Classenzahl des letztern besteht.

Inwieweit sie als direkte Beziehung zwischen Euler-Charakteristik und Zusammenhangszahl, wie sie Poincaré als allgemein bekannt voraussetzt, zur Zeit von Möbius bekannt ist, ist unklar. Möbius sieht offenbar einen direkten Zusammenhang zu den vorausgegangenen Überlegungen und stellt auf fragwürdige Weise eine Verbindung zwischen den Berührungspunkten und den Konstituenten eines Polyeders her, den Ecken, Kanten und Flächen. Zunächst charakterisiert er die Oberfläche eines Polyeders so, daß sie die Voraussetzungen eines CW-Komplexes erfüllt.

Vorausgesetzt nämlich, dass die Oberfläche eines Polyeders nicht aus getrennten Theilen zusammengesetzt ist, sondern dass man, auf ihr fortgehend, von jedem Punkte derselben zu jedem anderen ihrer Punkte gelangen kann, und dass jede einzelne Polyederfläche nur von Einem Perimeter, nicht von zwei oder mehrern dergleichen begrenzt ist,- ...

Perimeter steht hier für Grenzlinie. Nach der gleichwohl ungenügend begründeten Aussage von Möbius, dass alle ebenen, von nur einer Linie begrenzten Flächen zueinander elementar verwandt sind, können also die einzelnen Polyederflächen als 2-Zellen aufgefaßt werden. Hier möchte ich einen Vergleich mit der modernen Morse-Theorie anstellen. Nach der Einführung der CW-Komplexe durch Whitehead (1949) und ihrer Verwendung in der Morse-Theorie durch Bott (1960) stellte sich folgender Satz als zentral heraus [Milnor 1963, 20; cf. meine Vorbemerkungen]:

Sei eine Morsefunktion f auf einer Mannigfaltigkeit gegeben, so daß die Untermannigfaltigkeiten f-1(-¥,a] für alle aÎ R kompakt sind, dann ist diese homotopieäquivalent zu einem CW-Komplex, der Ci Zellen der Dimension i enthält. Ci wie oben.

Möbius konstruiert nun eine Morsefunktion auf einer Fläche, die ohne weiteres als homotopieäquivalent zu einem vorgegebenen Polyeder angenommen werden kann.

Um jetzt auf ein solches Polyeder den Satz des vor.§ anwenden zu können, wollen wir uns die Ecken und Kanten des Polyeders um ein unendlich Weniges abgestumpft vorstellen und somit seine Oberfläche, welche p heiße, in eine sich nach dem Gesetze der Stetigkeit fortziehende Fläche übergehen lassen. Wir wollen ferner eine die p umschließende Fläche t der ersten Classe beschreiben, diese hierauf, wie im Obigen, allmählig sich verkleinern lassen, und zwar jetzt dergestalt, dass sie während dessen die Fläche p nach und nach in jeder Ecke, Fläche und Kante der letztern einmal berühre.

Wie ein solches Zusammenziehen im Detail beschrieben werden soll, bleibt aufgrund dieser knappen Andeutungen im Dunkeln. Dabei könnte man entsprechend dem Aufbau eines CW-Komplexes folgende reelle Funktion auf einem Polyeder beschreiben. Auf den Ecken sei ein einheitlicher Funktionswert gegeben. Auf jeder Kante wähle eine Funktion, die auf den Ecken mit dem vorgegebenen Wert übereinstimmt und in ihrem Innern genau ein Maximum annimmt. Diese Funktion verschiebe man noch um einen konstanten Wert ganz ins Negative. Ebenso kann auf jeder Fläche des Polyeders eine Funktion angegeben werden, die auf ihrem Rand den dortigen Funktionen der Kanten entspricht und in ihrem Innern genau ein Maximum annimmt. Man wähle dazu eine Parametrisierung der Fläche durch die Polarkoordinaten (y,t) der Einheitskreisscheibe. Auf dem Rand ist dann von den Kanten eine Funktion f vorgegeben und man kann die Funktion (y,t)®tf(y,1)-1 wählen, die wieder ganz im Negativen liegt. Damit haben wir in der Tat eine Funktion auf dem Polyeder, die in allen Ecken ein Minimum, auf jeder Kante genau einen Sattelpunkt und auf jeder Fläche ein Maximum hat. Wenn sich das Polyeder nun abstumpfen und die Funktion glätten läßt, kommen wir in die Nähe der Aussage von Möbius.

Von diesen Berührungen sind die der Ecken und Flächen ersichtlich elliptischer Natur; dagegen werden die Kanten hyperbolische seyn.

Die anschließende Begründung von Möbius ist im allgemeinen falsch.

Denn da man sich den Krümmungshalbmesser des Durchschnitts einer abgestumpften Kante mit einer auf ihrer Längsrichtung perpendikularen Ebene unendlich klein zu denken hat, so liegen in unmittelbarer Nähe bei einer solchen Berührung die eben gedachte Durchschnittslinie und die Längenrichtung der Kante auf entgegengesetzten Seiten der berührenden Fläche t.

Direktere Ableitungen der verallgemeinerten Eulerschen Polyederformel auf der Grundlage der Theorie der elementaren Verwandtschaft fanden sich im handschriftlichen Nachlaß von Möbius [postum 1886, 542-551].

In der Theorie der elementaren Verwandtschaft [§.22] lauten die Formeln zusammengefaßt:

n=½(t-u)+2=½(K-E-F)+2

Nach einer Umformung ergeben sich die in der Morse-Theorie eingebürgerten Formeln aufgrund der Entsprechungen [cf. Seifert / Threlfall 1938, 6 sq.] C1=t, C0+C2=u, B0=1, B1=2(n-1), B2=1, a0=E, a1=K, a2=F:

t-u=2(n-1) -2=-E+K-F

Die Beziehung zwischen der Klassenzahl und der Euler-Charakteristik einer geschlossenen Fläche war, wie auch Möbius [§.22] bemerkt, schon der Generation vor ihm bekannt, neu war die Einbeziehung der kritischen Punkte, die durch die Zahlen u der Unionen und t der Ternionen repräsentiert sind.

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