Morse-Theorie und die Topologie der Mannigfaltigkeiten

Vorbemerkungen

In diesem vorangestellten Abschnitt möchte ich eine Skizze geben von Teilen der Morse-Theorie, die im Rahmen dieser Arbeit eine Rolle spielen und zugleich als die grundlegenden betrachtet werden können. Die Bezeichnung Morse-Theorie bezieht sich ursprünglich auf das von dem amerikanischen Mathematiker Marston Morse (1892-1977) verfaßte Buch The calculus of variations in the large, New York 1934 [zur Biographie von Morse cf. Smale 1978, Cairns 1978, Bott 1980 und Montgomery 1987]. Größere Verbreitung fanden die darin von Morse vereinigten Ideen durch die auf Lesbarkeit bedachte Darstellung von Seifert und Threlfall, Variationsrechnung im Großen (Theorie von Marston Morse), Leipzig und Berlin 1938, die zugleich ihren Schwerpunkt auf die weniger bekannte topologische Methode legte [Seifert / Threlfall 1938, 3, cf. Smale 1977, 619]. Die Analysis im Großen charakterisiert Morse grob damit, daß auf der Grundlage von Ergebnissen der klassischen Analysis, die im Kleinen gültig sein sollen, mit anderen Methoden wie der Gruppentheorie und der Topologie neue Problemfelder bearbeitet werden. Als den wichtigsten Vorläufer auf diesem Gebiet sieht er Poincaré [Morse 1934, iii]. Nach eigenen Angaben von Morse kam die entscheidende Anregung für seinen Beitrag zur Analysis im Großen aus dem Minimax-Prinzip von Birkhoff [Morse 1934, iv, cf. Morse 1946].

In der Einleitung zu dem 1925 veröffentlichten Aufsatz Relations between the critical points of a real function of n independent variables hat Morse den Definitionsbereich der fraglichen reellen Funktion f als very general from the point of view of analysis situs beschrieben. f soll dreimal stetig differenzierbar sein und zum Rand hin ansteigen, d.h. präzise, daß in jedem Randpunkt die Richtungsableitung von f nach einer nach außen zeigenden Normalen zur Randmannigfaltigkeit positiv sei. Die letztere globale Bedingung an das Verhalten der Funktion garantiert die Existenz des zum Gradientenvektorfeld gehörigen Flußes. Er ist das wichtigste Hilfsmittel der "macro-analysis", wie Morse seine Theorie nennt [Morse 1934, iii]. Die etwas schwerfällige Bedingung wird in der Geschichte der Morse-Theorie von Morse selbst und anderen modifiziert bis zu der von Palais und Smale formulierten und nach ihnen benannten Condition C [cf. Smale 1977, 692]. Eine Beschränkung auf geschlossene Mannigfaltigkeiten geht diesem Problem aus dem Weg und ist in unserem Zusammenhang ausreichend. Bei dieser Beschränkung insbesondere auf endlichdimensionale Räume muß bemerkt werden, daß die Hauptleistung von Morse darin bestand, die folgenden grundlegenden Überlegungen auf bestimmte unendlichdimensionale Räume auszudehnen.

Im Kleinen geht es bei der Morse-Theorie um die kritischen Punkte einer differenzierbaren Funktion f, das sind die Punkte, in denen die partiellen Ableitungen von f verschwinden. Das Interesse gilt in erster Linie Funktionen, deren kritische Punkte nicht-ausgeartet sind, d.h. daß die Matrix der zweiten partiellen Ableitungen von f in den kritischen Punkten von f nicht-singulär ist. Für eine differenzierbare Funktion, die keinen ausgearteten kritischen Punkt hat und deren globales Verhalten die geforderten Bedingungen erfüllt, verwenden wir auch die Bezeichnung Morsefunktion. Der Index eines nicht-ausgearteten kritischen Punktes p ist die maximale Dimension eines Unterraums im Tangentialraum von p, auf dem die Hessesche Form von f in p negativ definit ist. Das wichtigste Hilfsmittel für die Beschreibung der Umgebung eines kritischen Punktes ist das sogenannte Lemma von Morse:

Zu einem nicht ausgearteten kritischen Punkt p vom Index i gibt es eine Umgebung U und eine Karte u:U®VÌRn, so daß
f(x) = f(p) - u1(x)2... - ui(x)2 + ui+1(x)2... + un(x)2 für alle xÎU.

Die Karte u erhält allerdings nicht den Gradientenfluß. Smale hat darauf hingewiesen [1977, 685], daß das Lemma von Morse im grundsätzlichen Aufbau der Morse-Theorie keine Rolle spielt und als rein technisches Hilfsmittel verzichtbar ist. Wichtig ist aber eine direkte Folgerung aus dem Lemma von Morse, welche besagt, daß kritische Punkte isoliert sind: Jeder kritische Punkt hat eine Umgebung, in der kein weiterer kritischer Punkt liegt.

Die für unseren Zusammenhang zentralen Überlegungen stellen mit diesen Hilfsmitteln eine Verbindung her zwischen den Anzahlen Ci der kritischen Punkte vom Index i und der Struktur der Mannigfaltigkeit, auf der die entsprechende Morsefunktion definiert ist. Im Werk von Morse besteht dieser Zusammenhang in den Morseschen Ungleichungen oder, wie Threlfall sagt [1939 und 1941, 14], Morseschen Formeln, die einen Zusammenhang zu den Bettischen Zahlen der Mannigfaltigkeit herstellen:

C0 ³ B0
- C0 + C1 ³ - B0 + B1
:
:
C0 - C1 + C2 ... + (-1)nCn = B0 - B1 + B2 ... + (-1)nBn

Eine gültige Gestalt der Morse-Theorie hat Milnor in dem Lehrbuch Morse Theory, Princeton 1963, geschaffen. Die Bedingung an das globale Verhalten der Morsefunktion f:M®R lautet hier: f -1(-¥ ,a] sei kompakt für alle aÎR. Zentrale Aussage im ersten Teil des Buchs ist der folgende Zusammenhang:

M ist vom Homotopietyp eines CW-Komplexes mit je einer Zelle der Dimension i für jeden kritischen Punkt vom Index i.

Dieser Satz repräsentiert eine neue Stufe der Morse-Theorie, die Bott mit Morse Theory and its Application to Homotopy Theory im Jahr 1960 erreicht hatte. Direkte Homöomorphie-Aussagen aufgrund kritischer Punkte, wie sie für die Klassifikation der Flächen benötigt werden, hat Milnor nicht aufgenommen. Für beliebige Dimensionen hat sie Smale [1961, 403, Theorem (6.1)] in Form von Diffeomorphie-Aussagen bewiesen. Die mehrfach zitierte Rezension von Smale zu einem Spätwerk von Morse gibt einen Überblick über die Entwicklung der Morse-Theorie im Hinblick auf diese grundlegenden Aspekte.

Die Zusammenhänge zwischen der Struktur einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit M und den kritischen Punkten einer Morsefunktion f:M®R reduzieren sich in der Morse-Theorie auf die Frage, wie sich die Struktur der berandeten Untermannigfaltigkeit f -1(-¥ ,t] ändert, wenn t das Niveau eines kritischen Punktes passiert. Diese Aufgabe läßt sich gut anhand einer Höhenfunktion auf einem Torus veranschaulichen.
     
f(x) sei der Abstand eines Punktes xÎT2 von der Ebene E. Die Punkte p, q, r und s sind die kritischen Punkte von f.   f -1(-¥,t] für r < t < s   f -1(-¥,t] für q < t < r   f -1(-¥,t] für p < t < q

Grundlage dieses Vorgehens ist die Tatsache, daß sich f -1(-¥,t] mit wachsendem t strukturell nicht verändert, solange t keinen kritischen Wert annimmt. Beweisen möchte ich hier folgenden Satz, den ich unten an mehreren Stellen benutzen werde.

Satz. Enthält das Intervall [a,b] keinen kritischen Wert von f, so ist f -1[a,b] homöomorph zu f -1({a})´ [a,b].

Dazu einige Vorüberlegungen und Definitionen.

Ein Vektorfeld X auf einer C¥-Mannigfaltigkeit M ist in diesem Zusammenhang eine Abbildung X:M´C¥(M,R) ®R, so daß für jedes qÎM die Abbildung Xq:C¥(M,R)®R mit Xq(f):=X(q,f) eine Punktderivation ist. Für eine Kurve c:R®M ist die Richtungsableitung [(d/dt)c(t)](f):= (d/dt)(f°c)(t) längs c in jedem Punkt der Kurve eine Punktderivation.

Eine einparametrische Gruppe von Diffeomorphismen auf M ist eine C¥-Abbildung j:R´M®M mit den Eigenschaften:

1) für jedes tÎR ist jt:M®M mit jt(q) = j(t,q) ein Diffeomorphismus auf M,

2) für alle t,sÎR gilt jt+s = jt°js.

Insbesondere gilt j0 = idM.

Das zu j gehörige Vektorfeld F auf M definieren wir durch F(q,f):= [(d/dt)j(t,q)½ t=0](f). Man sagt dann auch, daß j von F erzeugt wird. Zu beweisen ist das folgende

Lemma. Jedes glatte Vektorfeld auf M mit kompaktem Träger KÌM erzeugt eine eindeutig bestimmte einparametrische Gruppe von Diffeomorphismen auf M.

Beweis. Wir wollen als bekannt voraussetzen, daß

die Differentialgleichung (D): X(j(t,q),f) = (d/dt)j(t,q)

mit der Anfangsbedingung (A): j(0,q) = q

lokal eine eindeutig bestimmte Lösung j(t,q) hat, die differenzierbar von q abhängt. Zu jedem Punkt q gibt es also eine Umgebung U(q) und ein e(q)>0 mit einer eindeutigen und differenzierbaren Lösung j(t,p) auf (-e(q),e(q))´U(q) für das Anfangswertproblem (DA). Aus allen Punkten qÎK genügt es, endlich viele q1, ..., qk auszuwählen, so daß K durch U(q1) È ... È U(qk) überdeckt wird. Außerhalb von K hat (DA) überall die Lösung j(t,q) = q. Wenn e das kleinste unter den e(q1), ..., e(qk) bezeichnet, gibt es also eine eindeutige und differenzierbare Lösung j(t,q) auf (-e,e)´M. Für |t|,|s|,|t+s|<e können wir zeigen, daß stets gilt js°jt = js+t. Denn y(t,q):= j(s+t,q) löst stets (D), wobei aber y(0,q) = j(s,q). Die Lösung für (D) mit der Anfangsbedingung j(0,y(0,q)) = y(0,q) hat aber die eindeutige Lösung j(t,y(0,q)). Daher ist

y(t,q) = j(t,y(0,q))

Û j(s+t,q) = j(t,j(s,q))

Û js+t = jt°js

Es bleibt, auf konsistente Weise j auf ganz R´M zu erweitern. Dazu muß man jede Zahl tÎR als ganzzahliges Vielfaches einer Zahl d<e ausdrücken und kann dann definieren jt = jd°...°jd.

Zum Beweis des Satzes benötigen wir nun ein Vektorfeld F zu einer Morsefunktion f:M®R, so daß F(q,f)=1 für alle qÎf -1[a,b]. Für die zu F gehörige einparametrische Gruppe von Diffeomorphismen gilt dann [(d/dt)j(t,q)](f)=1 sofern a£f°j(t,q)£b. Wegen

t-0 = f°j(t,q)-f°j(0,q)

Û f°j(t,q) = t+f(q)

Þ f°j (a-f(q),q) = a-f(q)+f(q) = a

liegt j(a-f(q),q) stets in f -1({a}). Die Abbildung

h:f -1[a,b]®f -1({a})´[a,b]
h(q) = (j(a-f(q),q),f(q))

ist ein Diffeomorphismus und damit der gesuchte Homöomorphismus. Denn zunächst ist ja-f(q) für festes q ein Diffeomorphismus auf M, insbesondere ist seine Einschränkung auf f -1({f(q)}) umkehrbar und beidseitig differenzierbar. Damit ist h differenzierbar und injektiv und die Umkehrung

h-1:f -1({a})´[a,b]®f -1[a,b]
(q,c)®j(c-a,q)

ist wohldefiniert und ebenfalls differenzierbar.

Dem gesuchten Vektorfeld F zu f:M®R liegt das Gradientenvektorfeld gradf zugrunde. Dieses ist mit einer Riemannschen Metrik < , > auf M durch die Identität

<X,gradf>q = X(q,f) für alle Vektorfelder X auf M

definiert. Wir benötigen ferner eine Funktion rÎ C¥(M,R) mit

r(q) = { 1/<gradf,gradf>q für qÎf -1[a,b]
0für qÏf -1[a-e,b+e] mit einem kleinen e,

deren Existenz wir voraussetzen. Es sei also F=r(q)gradf und es gilt die gewünschte Beziehung

F(q,f)=<F,gradf>q = <gradf,gradf>q/<gradf,gradf>q = 1 für qÎf -1[a,b].

Zu einem nützlichen Werkzeug für die Untersuchung von Mannigfaltigkeiten wird die Morse-Theorie erst durch einen Existenzbeweis für Morsefunktionen auf jeder gegebenen Mannigfaltigkeit. Milnor weist für C¥-eingebettete Untermannigfaltigkeiten des Rn nach, daß die euklidische Abstandsfunktion f:M®R, x®|x-p| für fast alle pÎRn keine ausgearteten kritischen Punkte hat. Jede Mannigfaltigkeit mit abzählbarer Basis der Topologie kann aber in einen euklidischen Raum eingebettet werden. Sie kann zusätzlich als abgeschlossener Teilraum eingebettet werden, so daß eventuelle Ränder im Unendlichen liegen. Dann erfüllt jede Abstandsfunktion auch die Bedingung für das globale Verhalten in der von Milnor gegebenen Form. Ein Grundstein für diesen Existenzbeweis ist der Satz von Sard, einem Schüler von Morse, mit dessen Hilfe auch fast alle "Höhenfunktionen" auf kompakten und differenzierbaren Hyperflächen im Rn als Morsefunktionen erwiesen werden können [siehe unten].

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