Die Mannigfaltigkeitsvorstellung von Möbius

Der einzige Begriff, der bei Möbius eine ausdrückliche Grundlegung erfährt, ist die elementare Verwandtschaft. Über die geometrische Figur erfährt man zunächst nichts, so ist nicht einmal klar, ob jede geometrische Figur einer elementaren Verwandtschaft fähig ist. Im Verlaufe der Argumentation werden einige Einschränkungen ausdrücklich formuliert, andere Eigenschaften ergeben sich aus der Anschauung, die Möbius zur Grundlage seines Vorgehens gemacht hat. Für elementar verwandte Figuren impliziert die Begriffsbildung von Möbius den Aufbau aus unendlich kleinen Elementen. Bei den konkret in der Arbeit behandelten Figuren ist es aber stets möglich, mit endlichen Elementen und kombinatorischen Nachbarschaftsbeziehungen zu arbeiten. Diese effektiv benutzten Elemente werden als Grundformen bezeichnet und die behandelten Figuren sind Resultate endlicher "Randverheftungen" dieser Elemente. Man kann auf dem Standpunkt stehen, daß unendlich kleine Elemente ohnehin nicht handhabbar sind [wie etwa Hirsch 1976, 188], besonders in ihren Nachbarschaftsbeziehungen. Möbius setzt aber im zweidimensionalen Fall den Aufbau einer Fläche aus Grundformen nicht etwa in Form einer kombinatorischen Struktur voraus, sondern weist durch seine Argumentation den Weg zu Bedingungen, unter denen der Aufbau aus endlich vielen endlichen Elementen möglich ist.

Da die Grundformen mit Hilfe der Homöomorphie definiert werden müssen, läßt sich die infinitesimale Betrachtung nicht umgehen. Die theoretischen Schwierigkeiten sind aber auf die Parametrisierung einer Grundform durch ein kompaktes Gebiet im Rn beschränkt. Damit ist Möbius schon sehr nah an der Idee des modernen Mannigfaltigkeitsbegriffs.

Auf der Grundlage der Dimensionsinvarianz kann man die Mannigfaltigkeitslehre als das Handwerk verstehen, das die wachsenden Schwierigkeiten in der Klassifikation der m-dimensionalen Untermannigfaltigkeiten des Rn (n³m) angeht. Welche Vorstellung Möbius von diesem Fortschreiten hatte, zeigt vielleicht die Stelle, an der er das Wort Mannigfaltigkeit das einzige Mal benutzt. Er beginnt damit die Untersuchung der geschlossenen Flächen, bei denen nämlich die Mannigfaltigkeit der Formen unendlich grösser als bei geschlossenen Linien ist. In dieser Hinsicht steht bei Möbius die Klassifikation der ebenen Flächen durchaus an einer sinnvollen Stelle zwischen den Linien und den Flächen im Raum. Nach der Erkenntnis der Randinvarianz liegt auch eine Eingrenzung des Flächenbegriffs nahe, die für den Rand die Eigenschaft einer geschlossenen Mannigfaltigkeit fordert [§.3]. Schon hier zeigt sich aber an der technisch aufwendigen und doch mangelhaften Argumentation für das niedrigere ebene Flächenproblem im Vergleich zu der eleganten Behandlung der unmittelbar folgenden Flächenprobleme im R3, daß dieser Standpunkt hinderlich ist.

Die von Möbius angegebenen Figurenklassen sind zusammengefaßt folgende, stets kompakt und zusammenhängend anzunehmen:

Strecken

geschlossene Linien

von geschlossenen Linien berandete ebene Flächen

geschlossene Flächen

von geschlossenen Flächen berandete körperliche Räume

Man ist versucht, diese Reihe mit geschlossenen n-dimensionalen Mannigfaltigkeiten und von diesen berandeten Gebieten des Rn+1 ins Unendliche fortzusetzen. Dabei besteht die Hoffnung, daß auch Grundformen höherer Dimensionen als zwei durch die topologische Gestalt ihrer Randmannigfaltigkeiten topologisch charakterisiert werden. Der Erfolg dieses Vorgehens hängt davon ab, daß die Grundformen der Dimension n vollständig klassifiziert sind, insbesondere also auch die (n-1)-dimensionalen geschlossenen Mannigfaltigkeiten, die als Rand von Grundformen auftreten. Darum hat sich Möbius im Falle der Flächen vorrangig bemüht. Die Eigenschaft, als Rand aufzutreten, ist im Falle geschlossener Flächen äquivalent zu ihrer Orientierbarkeit, die als ergänzende Voraussetzung zu den Überlegungen von Möbius unerläßlich ist. Aber schon die Homöomorphieklassen dreidimensionaler Grundformen lassen sich entgegen der von Möbius [§.23] geäußerten Vermutung so nicht mehr beschreiben. Möbius hat immerhin erste Versuche gewagt, dreidimensionale berandete Gebiete zu untersuchen, dabei sind ihm aber schon gravierende Fehler unterlaufen.

Die hier vermuteten Vorstellungen von Möbius hat Walther Dyck nochmals aufgegriffen und in diesem Sinne präzisiert [1888, 465 und 472-474]. Er stößt aber bei dem Versuch der Verallgemeinerung auf beliebige Dimensionen an einer ähnlichen Stelle wie Möbius auf Schwierigkeiten [1890, 306 sq.]. Auch Dehn und Heegaard [1907, 159, n.15] bemerken noch nach der Jahrhundertwende, daß mehr als zweidimensionale Elemente in mehr als dreidimensionalen Räumen Schwierigkeiten machen - sie konnten noch nicht wissen, daß diese Schwierigkeiten schon im R3 auftreten. Diese von Möbius ausgegangene Mannigfaltigkeitsvorstellung hat sich als begriffliche Grundlage nicht bewährt. Ähnliche Vorstellungen aber haben sich durchgesetzt. Seifert und Threlfall benutzen wie Möbius zunächst den Ausdruck geometrische Figur und zwar für eine Punktmenge im dreidimensionalen (oder einem höherdimensionalen) Raume [1934, 1]. Ihre behandelte Topologie ist schließlich aber auch eine Topologie der Komplexe und Mannigfaltigkeiten [1934, 4]. Die Beschränkung auf Komplexe erlaubt die Zerlegbarkeit in vorgegebene endliche Objekte, die Beschränkung auf Mannigfaltigkeiten spart das Homöomorphieproblem im Kleinen.

Einige Stellen scheinen mir darauf hinzudeuten, daß Möbius schon im Begriff war, sich über solche systematischen Ideen hinwegzusetzen. Für die Klassifikation der ebenen Flächen verwendet er nicht viel Mühe und er muß gemerkt haben, daß diese Argumentationen hinter denen zurückstehen, die die Flächen im Raum betreffen. Daß Möbius grundsätzlich auch die Flächen in die Untersuchung einbeziehen wollte, die nicht nach allen Seiten hin in sich zurücklaufen, schreibt er ausdrücklich [§.3] und gibt an, wie ihr Rand vernünftigerweise auszusehen hat. Er wird sicher nicht nur die ebenen Flächen damit gemeint haben. Darüber hinaus sind solche Flächen aber nicht vordringlich, weil sie nicht als Rand von körperlichen Räumen auftauchen. Und hier zeigt Möbius mehr Mut zur unvollständigen Klassifikation, ohne ihn zum Ausdruck zu bringen. Er unterschlägt diese Untersuchung im Gegensatz zu Jordan, der allein damit eine Verbesserung der Klassifikation gegenüber Möbius erreicht, und wendet sich dem dreidimensionalen Problem zu. Ähnliches gilt für die Flächen, die sich selber schneiden, wobei deren topologisch relevante Existenz entweder übersehen oder übergangen wird. Bei den körperlichen Räumen [§.23] bricht die Untersuchung mit folgendem Verweis ab:

Die nähere Prüfung dieses Satzes bleibe jedoch einer andern Gelegenheit vorbehalten.

Ob Möbius bei dieser Gelegenheit auch die vernachlässigten Flächen behandeln oder gar die angenommene Selbstbeschränkung auf den dreidimensionalen Raum durchbrechen wollte, bleibt fraglich. Man kann davon ausgehen, daß Möbius mehr als dreidimensionale Betrachtungen ablehnte. Im baryzentrischen Kalkül [Nachdruck 1885, 171 sq.] wird deutlich, daß er sich jedenfalls um 1827 keinen vierdimensionalen Raum vorstellen konnte [Struve 1990, 178]. Über diesen Standpunkt wird er wahrscheinlich nicht hinausgekommen sein. Im Jahr 1876 ist in Leipzig ein Versuch seines Freundes Drobisch [zur Biographie von Drobisch cf. Heinze 1904], die dritte Dimensionen zu überwinden, noch sehr zaghaft.

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