Das Schema einer Fläche
Möbius [§.6] beschreibt den Aufbau einer
Fläche anhand der oben behandelten Berührungen folgendermaßen.
Hiernach werden die erste und die letzte aller Berührungen stets elliptisch seyn, und j wird von e sowohl zwischen der ersten und zweiten, als zwischen der vorletzten und letzten Berührung nur in Einer geschlossenen Linie geschnitten werden. Wenn ferner irgend eine Lage der sich parallel nach unten bewegenden Ebene zwischen der ersten und der zweiten Berührung mit e1, irgend eine zwischen der zweiten und dritten mit e2, u.s.w. bezeichnet wird, so dass zwischen e0 und e1 die erste Berührung, zwischen e1 und e2 die zweite, u.s.w. fällt, so werden in je zwei nächstfolgenden dieser Lagen von e, wie in em und em+1, die Zahlen der in sie fallenden Durchschnittslinien mit j stets um die Einheit von einander verschieden seyn. Indem sich nämlich e von em bis em+1 parallel nach unten hin fortbewegt, bewegen sich auch die in em enthaltenen Durchschnittslinien parallel fort, obwohl im Allgemeinen mit Veränderung ihrer Gestalt, und sind daher auch in em+1 wieder anzutreffen, nur dass entweder
1) eine in em noch nicht vorhandene Linie in em+1 hinzugetreten ist, oder dass
2) eine der in em sich vorfindenden Linien in em+1 verschwunden ist, oder dass
3) eine der Linien in em sich in em+1 in zwei getheilt hat, oder dass
4) zwei der in em begriffenen Linien sich in em+1 zu Einer vereinigt haben.
Der erste, sowie der zweite dieser vier Fälle hat statt, wenn die zwischen em und e m+1 statt findende Berührung eine elliptische ist; der dritte, sowie der vierte Fall tritt ein, wenn die gedachte Berührung eine hyperbolische ist.
Diese Aussagen erfahren bei Möbius keinen ausdrücklichen Beweis. Es gibt aber vergleichbare Aussagen in der modernen Morse-Theorie. Fassen wir zunächst die Schnitte zwischen ei und j als Niveauflächen f-1({ci}) der Funktion f:j ®R, f(x,y,z)=z auf. Sei a eine Zusammenhangskomponente von f-1([cj,cj-1]), wobei im Intervall [cj,cj-1] höchstens ein kritischer Wert w¹cj,cj-1 von f liegt. Enthält a keinen kritischen Punkt von f, so ist a homöomorph zu S1´[0,1] (Satz der Vorbemerkungen). Enthält a ein Maximum oder ein Minimum, so ist a homöomorph zu D2, wie ich unten zeigen werde. Enthält a einen Sattelpunkt, so ist zu zeigen, daß a homöomorph zu einer "Hosenfläche" mit drei Grenzlinien ist. Demnach besteht der Rand von a aus einer Grenzlinie, wenn a ein Maximum oder ein Minimum enthält, aus zwei Grenzlinien, wenn a keinen kritischen Punkt enthält, und aus drei Grenzlinien, wenn a einen Sattelpunkt enthält. Alle Grenzlinien liegen aber auf einem der Niveaus f-1({cj}) oder f-1({cj+1}). Falls a kein Minimum oder Maximum enthält, ist notwendigerweise in beiden Niveaus mindestens je eine Grenzlinie enthalten. Damit ergeben sich genau die bei Möbius unterschiedenen Fälle. Nach der Zahl seiner Grenzlinien heißt a bei Möbius Union, Binion oder Ternion.
Die bei Möbius folgenden Ausführungen über die Aufstellung und Reduktion eines Flächenschemas, das die benötigten Informationen über den Aufbau einer Fläche trägt, möchte ich hier nur zusammenfassend darstellen, da sie in der einschlägigen Arbeit [Pont 1974, 92-97] ausführlich behandelt sind. Aus der Menge der Schnittlinien in den Ebenen f-1({ci}) werden dabei die Teilmengen ausgewählt, die innerhalb eines Flächenstücks f-1([cj,cj+1]) einer Zusammenhangskomponente angehören. Dieses System von Teilmengen bildet im wesentlichen das von Möbius verwendete Ausgangsschema. Seine zeilenweise Notation läßt allein noch die Entstehung des Schemas aus der Form einer Fläche erkennen. Die formalen Operationen, die Möbius am Schema durchführt, sind aber davon unabhängig. Eine formale und von der geometrischen Figur abgelöste Argumentation, wie sie bei Möbius zum ersten Mal im Rahmen einer topologischen Fragestellung auftaucht, gehört heute zu den Grundprinzipien der algebraischen Topologie.
(1) Die Zahl der Punkte ist endlich.
(2) Jeder Punkt ist in genau zwei Blöcken enthalten.
(3) Die kombinatorische Struktur ist zusammenhängend, in dem Sinne, daß es zu jedem Paar von Punkten (a,b) eine Reihe (a0,a1,...,ar) mit a0=a und ar=b gibt, so daß zu jedem iÎ{1,...,r} ein Block existiert, der ai-1 und ai enthält.
Zwei Schemen heißen äquivalent, wenn sie durch endlich viele der folgenden beiden zueinander inversen Operationen ineinander übergeführt werden können.
(4) Seien a={a1,...,an} und e={e1,...,em} Blöcke. Ist ai=ej und ak¹el für alle (k,l)¹(i,j), dann entsteht ein neues Schema, dadurch daß der Punkt ai wegfällt und die Blöcke a und e durch den Block a°e={a1,...,âi,...,an,e1,...,êj,...,em} ersetzt werden.
(5) Zu einer Zerlegung A1+A2 von a entsteht ein neues Schema, dadurch daß ein Punkt x hinzugenommen und a durch die Blöcke A1+{x} und {x}+A2 ersetzt wird.
Zunächst kann man das Ausgangsschema als Schema im eben definierten Sinn auffassen, das aus Blöcken mit je höchstens drei Punkten besteht. Daß dieses Ausgangsschema nur endlich viele Punkte enthält, ergibt sich daraus, daß es im Niveau f-1({c1}) genau eine Grenzlinie gibt. Da von f-1({cm-1}) nach f-1({cm}) die Anzahl der Grenzlinien sich stets nur um 1 ändert, sind in jedem Niveau nur endlich viele Grenzlinien enthalten, und da es nur endlich viele dieser Niveaus gibt, ist die Zahl der Grenzlinien überhaupt endlich. Darüber hinaus gehört eine Grenzlinie, die o.B.d.A. im Niveau f-1({cm}) liegt, genau zu ihren beiden Zusammenhangskomponenten in f-1([cm-1,cm]) und f-1([cm,cm+1]) und damit zu genau zwei Grundformen, denen je ein Block des Ausgangsschemas entspricht. Nach Voraussetzung ist j wegweise zusammenhängend. Zwischen zwei Grenzlinien gibt es also einen Verbindungsweg in j. Die Folge der Grenzlinien, die dieser Weg schneidet, entspricht einer Folge von Punkten mit den in (3) geforderten Eigenschaften.
Wir wollen nun für jedes Schema Normalformen ableiten. Zunächst kann das Schema dadurch vereinfacht werden, daß je zwei Blöcke, die nur einen Punkt gemeinsam haben, nach Regel (4) verknüpft werden. Nach endlich vielen Schritten gibt es dann keine zwei Blöcke, die genau einen Punkt gemeinsam haben. Nun mag es Paare von Blöcken (a,c) geben, die mehrere, aber nicht alle Punkte gemeinsam haben. Einer von beiden, es sei c, muß dann mindestens zwei Punkte mit einem dritten Block d gemeinsam haben. Es seien etwa a={a1,...,an,an+1,...,an+m}, c={a1,...,an,b1,...,bj,c1,...,ck} und d={b1,...,bj,d1,...,dh} mit n³2 und j³2, wobei verschiedene Symbole paarweise verschiedene Punkte seien. Nehme nun gemäß (5) einen Punkt x zur Zerlegung {a1,b2,...,bj,c1,...,ck}+{b1,a2,...,an} von c. Dann lassen sich gemäß (4) {a1,...,an+m} und {x,a1,b2,...,bj,c1,...,ck} zu {x,a2,...,an+m,b2,...,bj,c1,...,ck} sowie {x,b1,a2,...,an} und {b1,...,bj,d1,...,dh} zu {x,a2,...,an,b2,...,bj,d1,...,dh} kombinieren. Damit ist die Zahl der Blöcke um eins reduziert und die beiden neu entstandenen Blöcke haben mindestens zwei Punkte, nämlich x und a2 gemeinsam. So kann in endlich vielen Schritten erreicht werden, daß je zwei Blöcke alle Punkte gemeinsam haben. Da auch dieses Schema zusammenhängend ist, kann es nur zwei Blöcke enthalten. Dieses Schema heiße Linsenmodell der untersuchten Fläche. Äquivalent dazu ist das von Möbius zusätzlich angeführte Zwei-Kugel-Modell.
Um sich von der Fläche eine anschauliche Vorstellung zu machen, denke man sich zwei einander nicht schneidende Kugelflächen, deren jede n Öffnungen hat, und es wird, wenn man je eine Öffnung der einen Fläche mit je einer der andern durch eine Röhre verbindet, von denen keine zwei einen gemeinsamen Theil haben, eine Fläche der nten Classe entstehen. Denn zieht man um jede der n Röhren, etwa in der Mitte einer jeden, eine geschlossene Linie, so wird durch diese n Linien die ganze Fläche in zwei Theile zerlegt, deren jeder ebenso, wie jede der zwei mit n Öffnungen versehenen Kugelflächen selbst (§11.Zus.), eine Grundform der nten Classe ist.
Das Zwei-Kugel-Modell, als Schema aufgefaßt, besteht aus 2n Punkten g1,...,g2n und den n+2 Blöcken {g1,...,gn}, {gn+1,...,g2n} und {g1,gn+1}, {g2,gn+2}, ..., {gn,g2n}, von denen die ersten beiden die mit Öffnungen versehenen Kugelflächen darstellen und die übrigen n Blöcke die Röhren. Nach der Beschreibung von Möbius zeigt die Zerlegung jeder Röhre {gi,gn+i} durch eine Linie xi gemäß (5) und die anschließende Verknüpfung der Röhrenhälften mit der jeweils anliegenden Kugelöffnung gemäß (4) die Äquivalenz zum Linsenmodell aus zwei Blöcken {x1,...,xn}. Dieses beschreibt Möbius folgendermaßen.
Oder man bringe eine ebene Fläche, welche n-1 Öffnungen hat, also eine Grundform der nten Classe ist, mit einer ihr gleichen und ähnlichen Fläche zur Coincidenz und denke sich, dass, während die n Grenzlinien der einen mit den n Grenzlinien der andern in Deckung bleiben, die eine Fläche nach oben und die andere nach unten hin sich ausdehne. Hierdurch wird gleichfalls eine Fläche der nten Classe erzeugt werden.
Aus dem Linsenmodell kann auch leicht das moderne Henkelmodell abgeleitet werden, dessen Schema mit dem eines von Möbius formulierten Kanalmodells übereinstimmt. Ein Linsenmodell bestehe also aus dem wiederholten Block {l1,...,ln}. Einen von beiden zerlege man gemäß (5) in {l1}+{l2,...,ln} und nehme den Punkt x1 hinzu, für wachsendes i=1,...,n-1 nehme man den Punkt xi zur Zerlegung {li}+{x1,...,xi-1,li+1,...,ln} hinzu. Dann verknüpfe man {l1,...,ln} mit {x1,...,xn-1,ln} zu einem Block, den man als Kugelfläche mit den 2n-2 Öffnungen x1,...,xn-1,l1,...,ln-1 auffassen kann. Die entstandenen n-1 Röhren {li,xi} kann man entweder als Henkel oder als Wände von Kanälen auffassen, die durch das Kugelinnere führen und sich nicht treffen.
Aus den abgeleiteten Normalformen ergibt sich nun die Klassifikation der Schemen mit Hilfe folgender Invarianten. Bei der Operation (4) verschwindet aus dem Schema ein Punkt und die Zahl der Blöcke wird ebenfalls um eins vermindert. Entsprechend kommt bei (5) ein Punkt hinzu und die Zahl der Blöcke erhöht sich um eins. Die Differenz D aus den Anzahlen der Punkte und der Blöcke bleibt also bei beiden Operationen erhalten und ist bei äquivalenten Schemata gleich. Bei einem Linsenmodell mit n Punkten beträgt diese Zahl n-2. Im Ausgangsschema befinden sich nur Blöcke mit einer, zwei oder drei Punkten, deren Anzahlen ich mit g1,g2,g3 bezeichnen möchte. Da jeder Punkt in zwei Blöcken vorkommt, beträgt D dort ½(g1+2g2+3g3) - (g1+g2+g3)=½(g3-g1). Die Identität g3-g1=2(n-2) erweist sich mit der oben wiedergegebenen Argumentation von Möbius als Morsesche Formel.