Begriffsbildung

Möbius [1863, §.1] führt den Begriff der elementaren Verwandtschaft folgendermaßen ein:

Zwei geometrische Figuren sollen elementar verwandt heissen, wenn jedem nach allen Dimensionen unendlich kleinen Elemente der einen Figur ein dergleichen Element in der andern dergestalt entspricht, dass von je zwei an einander grenzenden Elementen der einen Figur die zwei ihnen entsprechenden Elemente der andern ebenfalls zusammenstossen; oder, was dasselbe ausdrückt: wenn je einem Punkte der einen Figur ein Punkt der andern also entspricht, dass von je zwei einander unendlich nahen Punkten der einen auch die ihnen entsprechenden der andern einander unendlich nahe sind.

Vom heutigen Standpunkt aus erkennen wir darin schon den wesentlichen Schritt zur Formulierung der Homöomorphie [Henn / Puppe 1990, 675, Hirsch 1978, 640, Pont 1974, 90, Dehn / Heegaard 1907, 159], des zentralen Begriffes der Topologie, wenngleich für ihre moderne Formulierung noch begriffliche Grundlagen fehlen.

Den Begriff der Verwandtschaft hatte Möbius in seinem barycentrischen Calcul [Nachdruck 1885, Vorrede (5-12) und Schlußbemerkungen zu Abschnitt II (315-318)], eingeführt und ihn zur treibenden Kraft seiner geometrischen Forschung gemacht [Wußing 1965, 6 sq., und 1969]. Verwandtschaft hatte dabei etwa die Bedeutung einer Transformation im Erlanger Programm von Felix Klein [siehe oben] - ein Unterschied zwischen der Verwandtschaft und dem, was die Verwandtschaft vermittelt, ist für Möbius kein Thema -. Es handelte sich um spezielle stetige Bijektionen, wobei Stetigkeit und Abbildungseigenschaft stets implizit gegeben waren, dadurch daß die von Möbius in Betracht gezogenen Verwandtschaften analytisch definiert werden konnten. Elementare Verwandtschaft ist hingegen typischerweise nicht analytisch gegeben, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, das Wesen der "stetigen bijektiven Abbildung" herauszuarbeiten. Die Idee, daß die Punkte bzw. Elemente zweier geometrischer Figuren einander entsprechen sollen, ist sehr anschaulich und erscheint grundlegend. Also beschränkt sich Möbius auf die Formulierung der Stetigkeit. Für unsere Vorstellung kommt die Eigenschaft der Stetigkeit aber einer Abbildung zu und diese kommt nicht ohne Auszeichnung von Bild- und Urbildmenge aus. Gesteht man Möbius aber zu, den Begriff der "bijektiven Abbildung" zu übergehen, so gibt er eine ausreichende Charakterisierung der Stetigkeit, die aufgrund der fehlenden Auszeichnung eine beidseitige sein muß. Eine nur einseitig stetige Bijektion steht nicht zur Debatte und existiert tatsächlich auch nur in allgemeineren Räumen.

Der Begriff der geometrischen Figur ist zunächst nicht näher erklärt, in der folgenden Abhandlung werden aber stets spezielle geometrische Figuren, nämlich Linien, Flächen und körperliche Räume untersucht. Es sind im wesentlichen die "Untermannigfaltigkeiten des R3". Hinzu kommen Grundeigenschaften einer Figur, die in moderner Terminologie durch die Zusatzbedingungen kompakt und zusammenhängend ausgedrückt werden können. Zusammenhang ist für Möbius wegweise, wie aus folgender Stelle [§.9.6] hervorgeht.

Weil die geschlossene Fläche j überall mit sich zusammenhängen soll, so muß man von jedem ihrer Punkte, in ihr selbst fortgehend, zu jedem andern Punkte derselben gelangen können.

Anstelle der Kompaktheit schränkt der Autor seine Untersuchung auf Linien endlicher Länge, Flächen endlicher Ausdehnung und von geschlossenen Flächen begrenzte körperliche Räume, insbesondere also auf beschränkte Untermannigfaltigkeiten des R3 ein. Während sich die Beschränkung auf Linien endlicher Länge nur daraus ablesen läßt, daß keine weiteren Überlegungen angestellt werden, formuliert Möbius [§.3] die Einschränkungen für Flächen ausdrücklich:

Gehen wir jetzt zu der el. Verwandtschaft zwischen Flächen fort. Wir werden dieselben stets von endlicher Ausdehnung und damit, wenn sie begrenzt sind und nicht, wie etwa die Kugelfläche, nach allen Seiten hin in sich selbst zurücklaufen, ihre Grenzlinien als geschlossene Linien von endlicher Länge vorraussetzen.

Es bleibt dann aber bei der Klassifikation geschlossener Flächen, die Möbius [§.6] folgendermaßen einleitet:

Wir wollen jetzt die Bedingungen in Untersuchung nehmen, unter denen zwei nach allen Seiten hin in sich selbst zurücklaufende Flächen, oder kurz zwei geschlossene Flächen, einander el. verwandt sind. Denn da bei Flächen dieser Art die Mannigfaltigkeit der Formen unendlich grösser als bei geschlossenen Linien ist, so ist schon im Voraus sehr wahrscheinlich, dass nicht ebenso, wie je zwei geschlossene Linien, auch je zwei geschlossene Flächen einander el. verwandt seyn werden. Die Folge wird dies bestätigen, nachdem vorher eine Methode entwickelt worden, mittelst welcher die Form einer geschlossenen Fläche, soweit es zum Folgenden erforderlich ist, durch ein einfaches Schema dargestellt werden kann.

Möbius spricht dann von einer geschlossenen Fläche, die man sich der leichtern Auffassung willen als stetig gekrümmt und sich selbst nicht schneidend vorstelle. Letzteres zerstört in der Tat die Mannigfaltigkeitsstruktur, wenn man sich streng auf Einbettung in den dreidimensionalen Raum beschränkt. Die Selbstdurchdringungen von Flächen werden so aber auf eine sehr zweifelhafte Weise von der Untersuchung ausgeschlossen, weil sie im Gegensatz zu Ecken und Kanten für die Topologie von Bedeutung sein können; nach der vorausgehenden Beschränkung auf geschlossene Flächen sind gerade die nicht-orientierbaren geschlossenen Flächen davon betroffen. Die Vorgehensweise von Möbius ist für diese tatsächlich nicht geeignet [cf. Scholz 1980, 168], obwohl seine in ihr enthaltene Entdeckung der Ternionen zweiter Art den Aufbau von Flächen mit Selbstdurchdringung nahelegt [siehe unten]. Diese Einschrän-kung ist auch insofern sehr einschneidend, daß das Interesse von Möbius an der Theorie der elementaren Verwandtschaft aus seinen Untersuchungen über Polyeder höherer Art hervorgegangen ist, die sich häufig selbst durchdringen, wenn sie in den R3 eingebettet sind.

Diese erste Einteilung der Figurenklassen wird durch eine Bemerkung am Ende des ersten Paragraphen gerechtfertigt, die Möbius ohne Beweis angibt:

Einer Linie kann hiernach nur eine Linie, einer Fläche nur eine Fläche, und einem körperlichen Raume nur ein körperlicher Raum elementar verwandt seyn.

Das ist der Satz über die "Invarianz der Dimensionenzahl unter Homöomorphismen" für maximal drei Dimensionen. Allerdings fehlt bei Möbius sowohl ein exakter Dimensionsbegriff als auch eine Argumentation mit dem Begriff der elementaren Verwandtschaft. Die Invarianz der Dimension ist so alt wie die Worte Linie, Fläche und Raum und entspringt einer menschlichen Grunderfahrung im Raum, dahingehend aufgefaßt, daß jede Art geometrischer Verwandtschaft die Dimension respektiert. Das hat sich aber insofern als falsch erwiesen, daß die mengentheoretische Bijektion als allgemeinste Verwandtschaft im modernen Sinn in der Tat die Dimensionsinvarianz verletzt. Damit war auch die Homöomorphieinvarianz der Dimension in Frage gestellt [zuerst durch Cantor 1878]. Es dauerte nach Möbius fast 50 Jahre bis sich die Begriffe der Dimension und der Mannigfaltigkeit geklärt hatten, so daß der Nachweis für die Invarianz der Dimensionenzahl gelingen konnte [für n=2 durch Schoenflies 1899, 289, für n£3 Lüroth 1907, und allgemein Brouwer 1911; zur Geschichte der Beweisversuche Jürgens 1899, 52 sq.; detaillierte historische Behandlung bei Johnson 1979-1981].

Noch grundlegender für die menschliche Erfahrung ist die Invarianz der Eigenschaft, eine Figur zu sein. Deshalb stehen für Möbius die elementaren topologischen Aussagen über die Invarianz der Eigenschaften "zusammenhängend" und "kompakt" nicht in Frage.

Möbius formuliert auf zwei verschiedene Arten, die bewährte Ausdrucksweisen des Unendlichkleinen benutzen, was dasselbe ausdrückt - nämlich die elementare Verwandtschaft. Die doppelte Formulierung ist zwar der mathematischen Grundlegung des Begriffs kaum dienlich, hier aber ist sie als Ausdruck der Anschauung von Möbius und damit als direkte Hilfe für die Anschauung des Lesers zu verstehen.

Die erste Art verwendet einander entsprechende unendlich kleine Elemente. Nehmen wir an, Möbius spricht diesen Elementen bereits eine Dimension - und zwar die der Figur selbst - zu. Dies trifft in der Tat das Wesen der "zusammenhängenden Mannigfaltigkeit", wenn man unter den unendlich kleinen Elementen die beliebig kleinen Umgebungen der Punkte versteht, die zu einem offenen Teil eines Rn homöomorph sind und damit eine auch naiv verständliche Dimension besitzen. Unter einem zu einem unendlich kleinen Element dergleichen Element hat man dann wohl eines der gleichen Dimension zu verstehen. Also könnten Figuren unterschiedlicher Dimension schon nach Definition nicht elementar verwandt sein und die Abschlußbemerkung zum ersten Paragraphen bedarf in der Tat keines Beweises.

Die Vorgehensweise von Möbius läuft darauf hinaus, daß man in der Definition der Stetigkeit unendlich kleines Element durch den von Möbius eingeführten Begriff Grundform ersetzen kann, wobei es sich um endliche Konstituenten einer Figur mit wohldefinierten Nachbarschaftsbeziehungen handelt. Die Ausdrucksweise unendlich klein ist im wesentlichen als Hinweis darauf zu verstehen, daß eine Grundform nicht kongruent sondern nur elementar verwandt zu einem euklidischen Raumteil sein muß.

Die zweite Art der Formulierung hingegen, die bei Zahlen nach Cauchy für die exakte Formulierung der stetigen und eineindeutigen Abbildung genommen werden könnte [cf. Volkert 1987, 199 sq.], benutzt unendlich nahe Punkte der geometrischen Figuren und impliziert keinesfalls die Übereinstimmung ihrer Dimensionen im Kleinen, nicht einmal deren Mannigfaltigkeitseigenschaft. Diese Formulierung ist also allgemeiner und die Äquivalenz zur ersten Art der Formulierung sowie die Abschlußbemerkung als Folge sind beweisbedürftige Aussagen. Dieser Schwierigkeit ist Möbius aus dem Weg gegangen.

Die Übertragung des Begriffs unendlich nahe von Zahlen auf Punkte einer geometrischen Figur macht in der Tat keine Schwierigkeiten, sofern der Begriff des Abstands zwischen zwei Punkten einer geometrischen Figur geklärt ist. Im einzig fraglichen Fall der krummen Flächen ist die Gaußsche Differentialgeometrie, die in der Zeit von Möbius den Flächenbegriff prägt, eine verläßliche Garantie dafür. Auf dieses Problem geht Möbius aber nicht ein, er hatte vielmehr ein besonderes Interesse für die Probleme der Analysis situs, z.B. das "Vierfarbenproblem" [cf. Baltzer 1885]. Die auf Leibniz zurückgehende Idee der Analysis situs besteht ja darin, solche Lagebeziehungen zu charakterisieren, die von Maßbestimmungen unabhängig sind. Die Präzisierung dieses Sachverhalts gelingt aber erst im Begriff des topologischen Raums.

 

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