Möbius als Vorläufer der Morse-Theorie
Zusammenfassung
Abschließend möchte ich die Aspekte hervorheben, die Möbius mit seinen Untersuchungen zur Theorie der elementaren Verwandtschaft in enge Verbindung mit den Wurzeln der Morse-Theorie bringen.
Möbius benutzt auf den von ihm behandelten geschlossenen Flächen eine Zusatzstruktur, die der einer Morsefunktion sehr nahe kommt. Die geschlossene Fläche j liege dazu in einem dreidimensionalen Raumstück, das durch e´[a,b] parametrisiert ist, wobei e eine Fläche sei. Betrachtet man in jedem Punkt der Fläche den Wert in der zweiten Koordinate, erhält man eine Funktion f:j®[a,b]. Möbius hat die Schnitte zwischen j und e´{c} für cÎ[a,b] betrachtet. Die von Möbius eingeführten Berührungspunkte zwischen j und e´{c} erweisen sich als nicht-ausgeartete kritische Punkte von f. Diese Überlegungen sind nur unter der Bedingung sinnvoll, das f eine Morsefunktion ist. In den wichtigen Fällen ist e´[a,b] eine Schar paralleler Ebenen oder eine Schar konzentrischer Kugelflächen. Die daraus abgeleiteten Funktionen sind Abstandsfunktionen und spielen als Anschauungsmaterial eine wichtige Rolle in der Morse-Theorie. Insbesondere weist der moderne Existenzbeweis für Morsefunktionen auf einer Mannigfaltigkeit viele Abstandsfunktionen als Morsefunktionen aus.
Möbius beschreibt dann eine geeignete Zerlegung der Fläche in Flächenteile, so daß in jedem Flächenteil höchstens ein Berührungspunkt liegt. Dann zieht Möbius den entscheidenden "morsetheoretischen" Schluß: Ein Flächenteil dieser Zerlegung, der einen elliptischen Berührungspunkt enthält, ist eine Union, ein Flächenteil ohne Berührungspunkt ist eine Binion und ein Flächenteil, der einen hyperbolischen Berührungspunkt enthält ist eine Ternion. Diese Formulierung kann entweder als Definition der Begriffe Union, Binion und Ternion aufgefaßt werden oder als Homöomorphieaussage, wenn diese Begriffe bereits als homöomorphe Bilder ebener Flächen mit einer, zwei oder drei Grenzlinien erklärt sind. Die in jedem Fall erforderliche Homöomorphieaussage gehört in das Gebiet der Analysis im Großen, denn sie gibt aufgrund der lokalen analytischen Eigenschaft eines Berührungspunktes Auskunft über den Rand des Flächenteils als eine globale topologische Struktur.
Die Begründung dieser Homöomorphieaussage stützt sich bei Möbius zum größten Teil auf die Anschauung. Ein exakter Beweis ist erst mit den Methoden der Morse-Theorie zur Untersuchung der Umgebungen kritischer Punkte möglich. Die einfache topologische Struktur der Binionen entspricht einem grundlegenden Satz der Morse-Theorie, der die Ableitung von Beziehungen zwischen den kritischen Punkten und der globalen Struktur einer Mannigfaltigkeit erlaubt.
Für orientierbare geschlossene Flächen hat Möbius bereits die endgültigen Beziehungen zwischen den kritischen Punkten und der Topologie angegeben. Diese Beziehungen stützen sich aber abgesehen von einfachen kombinatorischen Überlegungen auf eine topologische Klassifikation der geschlossenen Flächen, die ihrerseits von Möbius auf unbewiesenen Homöomorphieaussagen über ebene Flächen aufgebaut wird. Somit hat Möbius aufbauend auf Grundlagen aus der Analysis und der Flächentopologie Ergebnisse im Sinne der Morse-Theorie abgeleitet, ohne das Fundament der Flächentopologie wirklich zu haben.