Einleitung

Im Blickpunkt dieser Arbeit steht ein Aufsatz von August Ferdinand Möbius (1790-1868) mit dem Titel Theorie der elementaren Verwandtschaft. Möbius war die meiste Zeit seines Lebens als Astronom und Mathematiker in Leipzig tätig [zu seiner Biographie cf. Bruhns 1877, 24-84, Baltzer 1885, Cantor 1885, Klein 1926, 116-119, Blaschke 1929, 458-460, Wußing 1965, Wußing 1975 und Fauvel 1993]. Sein Ziel in der Theorie der elementaren Verwandtschaft ist die Bearbeitung dessen, was wir heute das Homöomorphieproblem für Mannigfaltigkeiten nennen. Ein theoretisches Fundament ergibt sich aus der von ihm selbst im Laufe seines Lebens entwickelten Theorie der geometrischen Verwandtschaften und greift die zu seiner Zeit aktuellen Probleme der Analysis situs auf. Darin besteht die Bedeutung dieser Arbeit in begrifflicher Hinsicht. In der folgenden Untersuchung wird sich zeigen, daß Möbius einige anschauliche Tatsachen, die er wohl für selbstverständlich hält, mit aus heutiger Sicht unzureichenden Argumentationen übergeht. Einige sind innerhalb des Homöomorphieproblems für Mannigfaltigkeiten so grundlegend, wie die Invarianz der Dimensionenzahl oder die Invarianz des Randes, daß eine topologische Forschung ohne sie unmöglich ist. Es ist ganz natürlich, daß solche Tatsachen schon benutzt werden, bevor begriffliche Grundlagen zur Verfügung stehen, die sie als Tatsachen erweisen. Nicht dazu gehört aus moderner Sicht die Klassifikation der ebenen Flächen, deren Rand aus einer endlichen Anzahl von geschlossenen Linien besteht. Die aufwendig erscheinende Argumentation von Möbius dazu ist im Grunde nichts als die Akzeptanz einer anschaulichen Tatsache.

Dagegen heben sich die eleganten Methoden anderer Abschnitte deutlich ab. Die Stellen nämlich, an denen Möbius vorgreifend die Ideen der Morse-Theorie für die Klassifikation der geschlossenen Flächen einsetzt, werden weitgehend modernen Ansprüchen gerecht oder stimmen sogar mit entsprechenden Stellen der modernen Morse-Theorie überein. Möbius hat in mancher Hinsicht das Wesen dieser Methode erkannt und beispielsweise anhand der Höhenfunktion an einem Torus die Bedeutung der Berührungspunkte, die als kritische Punkte einer Morsefunktion interpretiert werden können, für die Topologie einer Mannigfaltigkeit erläutert [Möbius 1863 §.6 und §.7, 3. Beispiel mit fig. 5]. Dieser anschauliche Einstieg hat sich in modernen Darstellungen der Morse-Theorie [Seifert / Threlfall 1938, 7, Milnor 1963, 1-3], insbesondere auch in Vorlesungen durchgesetzt.

Beim Vorgehen von Möbius muß man berücksichtigen, daß der Aufbau seiner Arbeit streng nach der Theorie der elementaren Verwandtschaft im Sinne einer Topologie der Mannigfaltigkeiten ausgerichtet war. Da es in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch keine Topologie gab, war an eine Kombination analytischer und topologischer Methoden, wie in der Morse-Theorie, nicht zu denken. Es ist deshalb nicht als Methodenreinheit aufzufassen, wenn Möbius auch den lokalen Überlegungen, die vom modernen Standpunkt betrachtet analytischer Natur sind, ein topologisches Aussehen gegeben hat. Was in der Morse-Theorie als kritischer Punkt einer Funktion aufgefaßt wird, hat bei Möbius die differentialgeometrische Bezeichnung Berührungspunkt. Die bemerkenswerte Auffassung eines solchen Punkts als Extremwert des Abstands ist bei Möbius eine Ergänzung, die der Anschauung dient. So entspricht auch der logische Aufbau nicht dem der Morse-Theorie. Man kann mit der entsprechenden Interpretation bei Möbius wohl den Begriff des nicht-ausgearteten kritischen Punktes finden [cf. Hirsch 1976, 4, Dombrowski 1990, 330], die Forderung "nicht-ausgeartet" wird dann aber an bereits definierte kritische Punkte gestellt, ohne die Möglichkeiten ins Auge zu fassen, unter denen diese Forderung erfüllt werden kann. Das Fehlen des Existenzbeweises für eine "Morsefunktion" fällt auf, weil bei Möbius ohnehin nur ganz spezielle "Funktionen" vorkommen, fällt aber andererseits kaum ins Gewicht, weil der moderne Existenzbeweis für Morsefunktionen auf eingebetteten Mannigfaltigkeiten mit einfachen und auch bei Möbius vorkommenden euklidischen Abstandsfunktionen auskommt. Wenn man berücksichtigt, daß für Möbius die Existenz seiner "Morsefunktionen" nicht in Frage stand, kann man die Aussage aufrechterhalten, daß er explizite einen Satz der Morse-Theorie [Dombrowski 1990, 332] formuliert. Der fehlende Existenzbeweis ist dann lediglich eine Lücke in der Beweisführung, deren Schließung moderne Methoden braucht.

Der Beweis für die grundsätzlich richtige Klassifikation der Flächen hat bei Möbius an folgender Stelle die entscheidende Lücke. Seinen Kandidaten für eine topologische Invariante geschlossener Flächen nennt er die Classenzahl. Sie kommt zunächst aber nur einer Zerlegung der Fläche zu, die bei ein und derselben Fläche sehr unterschiedlich ausfallen kann, einen Beweis für die Wohldefiniertheit der Klassenzahl erbringt Möbius nicht. Man kann aber interessanterweise mit elementaren Methoden der Analysis beweisen, daß zwei solche Zerlegungen mit gleicher Klassenzahl die zugrundeliegenden Flächen als homöomorph erweisen. Außerdem geht unter einem Homöomorphismus die Zerlegung einer Fläche in eine Zerlegung der Bildfläche mit gleicher Klassenzahl über. Für den Ausweis der Klassenzahl als topologische Charakteristik geschlossener Flächen fehlt damit nur ihre Wohldefiniertheit. Diese ist genau das Problem der Zusammenhangstheorie von Riemann in seinen Arbeiten von 1851 und 1857 und es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit Möbius mit den Ideen von Riemann vertraut war.

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